Der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel fordert von Deutschland eine grundsätzliche Korrektur seiner Russland-Politik und warnt vor Blauäugigkeit gegenüber den weiteren Zielen von Präsident Wladimir Putin. «Russland ist der Feind», sagte Schlögel, einer der profiliertesten Kenner Russlands, der Deutschen Presse-Agentur. «Russland ist ein Staat, der in Europa einen Krieg angefangen hat, und darauf müssen sich die Deutschen einstellen. Das heißt: verteidigungsbereit sein, abwehrbereit sein.»
Der 76 Jahre alte Historiker («Moskau 1937», «Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen»), der in Konstanz und Frankfurt (Oder) Professor war, wird am Montag in Düsseldorf mit dem renommierten Gerda Henkel Preis ausgezeichnet. Zuletzt wandte er sich mit dem Buch «American Matrix» (2023) den USA zu und erzählte die Geschichte des 20. Jahrhunderts als eine Verflechtungsgeschichte der Imperien USA und Sowjetunion neu.
Der Krieg hat lange begonnen
«Wir sind ja schon in einer Kriegssituation», sagte Schlögel. «Ein Krieg fängt ja nicht von heute auf morgen an, sondern es gibt Vorstufen.» Russland versuche, «die EU zu zerlegen» und Fluchtbewegungen auszulösen. Acht Millionen Ukrainer seien durch den russischen Angriffskrieg vertrieben worden. «Es gibt fortwährend Versuche der Einmischung, Sabotageakte, Versuche, die politischen Parteien zu instrumentalisieren, also die AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht», sagte Schlögel. «Russland testet, wie weit es gehen kann.»
In Deutschland werde die Frage «Krieg und Frieden» ein zentraler Punkt im Bundestagswahlkampf sein, sagte Schlögel. Aber in Deutschland sei der Ernst der Lage und der Zeitenwende noch gar nicht ins öffentliche Bewusstsein gekommen. «Sondern man glaubt immer noch, man könnte dieser Auseinandersetzung irgendwie entgehen. Am besten dadurch, dass die Ukraine Ruhe gibt, uns in Ruhe lässt und Frieden macht. Das wäre die Preisgabe der Ukraine, die im Augenblick ja nicht nur sich selbst verteidigt.»
Schlögel hält auch das Telefonat von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit Kremlchef Putin für einen Fehler. Scholz habe es «aus wahltaktischen Gründen geführt, um sich als Friedenskanzler aufzustellen», sagte Schlögel. «Er ist damit Putin entgegengekommen, der zwei Tage später den größten Raketenangriff auf die ukrainischen Städte niedergehen lässt.»
Kein Diktatfrieden für die Ukraine
Trotz der schwierigen militärischen Lage der Ukraine nach mehr als 1.000 Tagen russischer Angriffe glaubt Schlögel nicht, dass die Lage Kiews aussichtslos ist. Das Allerwichtigste sei jetzt, die Ukraine vor der totalen Zerstörung zu schützen. «Jeden Tag und jede Nacht gehen Bomben auf die ukrainischen Städte nieder, werden Lebensgrundlagen zerstört und die Städte sollen kapitulationsreif geschossen werden. Das ist ungeheuerlich. Und deswegen finde ich die Lieferung von Waffen, die auf die Ausgangspunkte diese Aggressionen abzielen, längst überfällig und dringend notwendig.»
Schlögel spielt damit auf die Lieferung weitreichender Waffen an. Scholz lehnt die Lieferung des reichweitenstarken deutschen Marschflugkörpers Taurus bisher ab.
Putin kennt keine festen Grenzen
Dass es irgendwann Verhandlungen geben werde, sei ganz klar, sagt Schlögel. Die Frage sei, ob diese unter Bedingungen eines Diktatfriedens stattfänden oder unter Bedingungen, die das Überleben und die Sicherheit der Ukraine gewährleisteten.
Schlögel würde auch weitere Aggressionen Russlands gegen andere Staaten nicht ausschließen. «Putin ist ein meisterhafter Choreograph und Analytiker der Schwächen der Gegenseite. Ich glaube nicht, dass er einen festen Plan hat, aber er hat immer wieder gesagt, dass es keine festen Grenzen der russischen Welt gibt.»
Auch die russische Kultur im Dienst des Krieges
Schlögel äußert sich skeptisch, ob sich Russland nach der Ära Putin zu einem freiheitlichen oder reformorientierten Land entwickeln kann. Im 20. Jahrhundert seien die zivilen Kräfte und Eliten in Russland durch Revolution und Bürgerkrieg, Hungersnöte, den Stalinschen Terror und die zwei Weltkriege stark dezimiert worden. Er habe den Eindruck, dass dieser Prozess immer wieder von vorne beginne. «Dieser Eindruck, dass Russland sich im Kreise dreht und es eigentlich keinen Fortschritt gibt, der hat sich auch jetzt wieder eingestellt.»
Auch die vielfach bewunderte russische Kultur muss nach Ansicht Schlögels im neuen Kontext gesehen werden. «Man kann nicht dem Krieg zugucken und gleichzeitig sagen: Es gibt ja die große russische Kultur.» Auch russische Kulturschaffende würden «von dem Aggressor» eingesetzt. «Es wird furchtbar lange dauern, bis die russische Kultur nach dem Ende des Krieges sich von dieser Kontaminierung und Instrumentalisierung durch den Krieg erholen wird – wenn überhaupt.»
Quelle: dpa