Mehr als ein Jahr nach Beginn des Kriegs mit der libanesischen Hisbollah-Miliz hat das israelische Sicherheitskabinett nach Angaben des Büros von Regierungschef Benjamin Netanjahu eine von den USA und Frankreich vermittelte Waffenruhe gebilligt. US-Präsident Joe Biden teilte in Washington mit, die Waffenruhe werde in der Nacht zum Mittwoch beginnen. «Nach der heute erzielten Vereinbarung werden die Kämpfe an der libanesisch-israelischen Grenze morgen um 4 Uhr morgens Ortszeit enden», sagte der Demokrat bei einer Ansprache in Washington. Das wäre Mittwoch um 3:00 Uhr MEZ.
Biden: «Gute Nachrichten»
Das Ziel sei eine «dauerhafte Einstellung der Feindseligkeiten», sagte Biden und sprach von «guten Nachrichten». Israel werde in den kommenden 60 Tagen seine verbleibenden Streitkräfte aus dem Libanon abziehen, so Biden. Sollte die Hisbollah das Abkommen brechen und eine Bedrohung für Israel darstellen, habe Israel das Recht auf Selbstverteidigung, so der US-Präsident. Dies stehe im Einklang mit dem Völkerrecht. Nach Angaben eines hochrangigen US-Regierungsvertreters sieht das Abkommen auch für den Libanon ausdrücklich das Recht auf Selbstverteidigung nach Völkerrecht vor.
Netanjahu richtete eine scharfe Warnung an die Hisbollah. «Die Dauer der Waffenruhe hängt davon ab, was im Libanon geschieht», sagte er im Fernsehen. Die israelische Regierung reklamiert für sich das Recht, jederzeit im Libanon militärisch einzugreifen, falls die Hisbollah die Übereinkunft brechen sollte und die libanesische Armee und die internationale Staatengruppe untätig bleiben sollten. «Mit dem vollen Einverständnis der USA behalten wir die volle militärische Handlungsfreiheit», sagte Netanjahu.
Biden gab sich optimistisch. «Zivilisten auf beiden Seiten werden bald in der Lage sein, sicher in ihre Gemeinden zurückzukehren und mit dem Wiederaufbau ihrer Häuser oder Schulen, ihrer landwirtschaftlichen Betriebe und ihrer Unternehmen zu beginnen», sagte Biden weiter. Gleichzeitig unterstütze das Abkommen die Souveränität des Libanon und läute «einen Neuanfang für den Libanon» ein.
USA machten sich seit Wochen für Einigung stark
Die USA und andere Länder wie Frankreich wollten «die notwendige Unterstützung leisten, um sicherzustellen, dass diese Vereinbarung vollständig und wirksam umgesetzt wird», erklärte Biden. Ein hochrangiger US-Vertreter betonte, die USA hätten nicht mit der Hisbollah verhandelt, sondern mit der libanesischen Regierung, die nun die Verantwortung dafür übernehmen müsse, was im Land passiere. Ob sie dazu angesichts der Schwäche des libanesischen Staates in der Lage sein wird, galt als zweifelhaft. Von der Hisbollah selbst gab es zunächst keine Reaktion auf die Verkündung der Waffenruhe.
Biden betonte, dass keine US-Truppen im Libanon stationiert würden. Die USA als Israels wichtigster Verbündeter drängten seit Wochen auf eine Waffenruhe zwischen der Hisbollah und Israel. Netanjahu betonte: «Wenn die Hisbollah das Abkommen verletzt und versucht, sich zu bewaffnen, werden wir angreifen.» Libanons geschäftsführender Ministerpräsident Nadschib Mikati forderte die sofortige Umsetzung.
Die israelische Luftwaffe hatte bis kurz vor Verkündung der Waffenruhe noch besonders massive Angriffe auf Beirut und die südlichen Vororte geflogen. Das libanesische Gesundheitsministerium teilte mit, dass bei den Angriffen in zentralen Vierteln Beiruts mindestens zehn Menschen getötet worden seien. Auch die Hisbollah schoss weiter Raketen auf den Norden Israels ab, wo es Luftalarm gab.
Biden hofft auch auf Waffenruhe auch im Gazastreifen
Biden setzte sich auch für eine Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen ein. «Genauso wie das libanesische Volk eine Zukunft in Sicherheit und Wohlstand verdient, verdienen auch die Menschen in Gaza eine Zukunft in Sicherheit und Wohlstand. Auch sie verdienen ein Ende der Kämpfe», betonte er.
Der britische Premierminister Keir Stamer begrüßte die Waffenruhe und forderte ebenfalls ein Ende der Gewalt auch im Gazastreifen. Großbritannien und seine Verbündeten würden sich für dafür einsetzen, den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen, um einen langfristigen Frieden im Nahen Osten zu erreichen. «Wir brauchen sofortige Fortschritte in Richtung einer Waffenruhe im Gazastreifen, die Freilassung aller Geiseln und die Aufhebung der Beschränkungen für die dringend benötigte humanitäre Hilfe», sagte er.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bezeichnete die Waffenruhe als Chance für den Libanon. «Es ist wichtig, dass diese Waffenruhe eingehalten wird und das auf Dauer», sagte er in einem auf X geposteten Video. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sprach von einem «Lichtblick für die ganze Region». Hunderttausende Frauen, Kinder und Familien im Libanon könnten nun neue Hoffnung schöpfen, ebenso Zehntausende Menschen aus dem Norden Israels, erklärte Baerbock am Abend in Berlin.
Rückzug von Hisbollah-Miliz und israelischer Armee
Nach der Einstellung der Kämpfe zwischen israelischer Armee und der Hisbollah soll sich die Iran-treue Miliz den zunächst unbestätigten Berichten zufolge hinter den Litani-Fluss etwa 30 Kilometer nördlich der faktischen israelisch-libanesischen Grenze zurückziehen. Danach sollten sich Israels Bodentruppen binnen 60 Tagen aus dem Libanon zurückziehen.
Um eine Rückkehr von Hisbollah-Kämpfern zu verhindern, sollen Soldaten der libanesischen Armee, die am Krieg eigentlich nicht beteiligt sind, parallel zum israelischen Abzug im Grenzgebiet stationiert werden, berichtete der US-Regierungsvertreter. Überwachen soll die Vereinbarung laut Medienberichten eine Staatengruppe unter Führung der USA zusammen mit Frankreich, dem Libanon, Israel und der UN-Friedenstruppe Unifil, die seit Jahren im Libanon stationiert ist. Die Überwachungskommission solle außerdem dafür sorgen, dass sich die Miliz nicht neu bewaffnet. In einem späteren Schritt sollten Israel und der Libanon dann auch über strittige Grenzfragen verhandeln.
UN-Resolution von 2006 als Blaupause
Die Übereinkunft entspricht den vorliegenden Berichten zufolge weitgehend der UN-Resolution 1701, mit der nach dem vergangenen Krieg 2006 vergeblich versucht worden war, ein dauerhaftes Ende der Gewalt zu erreichen. US-Vermittler Amos Hochstein bezeichnete die neue Einigung deshalb auch als «1701 Plus».
Ein wichtiger Punkt der Einigung dreht sich um das Arsenal der Hisbollah, die laut Experten vor Kriegsbeginn zu den stärksten paramilitärischen Gruppen der Welt zählte. Die Regierung des Libanon – derzeit nur geschäftsführend im Amt – soll dafür alle Waffenverkäufe an das Land sowie deren Herstellung so überwachen, dass sie die Hisbollah oder andere bewaffnete Gruppen nicht erreichen. Es gilt jedoch als zweifelhaft, ob der relativ schwache libanesische Staat dazu fähig sein wird. Ähnliche Bedenken gibt es, ob die geplante Stationierung von insgesamt 10.000 Soldaten der nicht sehr schlagkräftigen libanesischen Armee – 5.000 sind bereits im Süden – dabei helfen kann, den Konflikt zu beruhigen.
Hisbollah macht Beschuss nicht mehr von Gaza abhängig
Die Hisbollah beschoss Israel bislang nach eigenen Angaben zur Unterstützung der islamistischen Hamas, die mit dem Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 auf Israel den Gaza-Krieg ausgelöst hatte. Nach israelischen Militärangaben feuerte die Miliz seit Kriegsbeginn mehr als 17.000 Raketen auf Israel ab. Ursprünglich wollte sie diesen Beschuss nach eigenen Angaben erst beenden, wenn eine Waffenruhe im Gazastreifen erreicht ist. Auf diese Bedingung verzichtet sie nun offenbar.
Auf der libanesischen Seite wurden bei Israels Angriffen viele Dörfer und Stadtviertel in Schutt und Asche gelegt. Insgesamt seien etwa 12.000 Ziele im Libanon bombardiert worden, teilte die israelische Armee auf Anfrage mit. Dabei gab es nach libanesischen Angaben, die sich nicht unabhängig überprüfen lassen, mehr als 3.700 Tote und etwa 15.500 Verletzte. Bei den Angaben wurde nicht zwischen Zivilisten und Bewaffneten unterschieden. Mehr als 800.000 Menschen wurden durch die Kämpfe im Land vertrieben, Hunderttausende flüchteten ins benachbarte Syrien.
In Israel gab es im selben Zeitraum durch Angriffe der Hisbollah 76 Tote, die Mehrheit davon Zivilisten, über 700 Verletzte und große Sachschäden. Israels Raketenabwehr fing aber die meisten Geschosse der proiranischen Miliz ab. Etwa 60.000 Bewohner Nordisraels wurden evakuiert.
Quelle: dpa