Bei erneuten russischen Drohnen- und Raketenangriffe wurde die nordostukrainische Stadt Charkiw getroffen., © Vesa Moilanen/Lehtikuva/dpa

Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat sich offen für das Angebot einer US-Waffenhilfe auf Kredit gezeigt. «Wir werden jede Option akzeptieren», sagte Selenskyj in einem im ukrainischen Fernsehen ausgestrahlten Interview. Die USA sind mit Waffenhilfen über umgerechnet 40 Milliarden Euro militärisch der wichtigste Verbündete der Ukraine bei ihrer Abwehr des russischen Angriffskriegs. Allerdings liegt weitere Rüstungshilfe derzeit wegen eines innenpolitischen Streits zwischen Demokraten und Republikanern in den USA auf Eis. Die Ukraine ist deswegen die Defensive geraten und verliert derzeit an Boden gegen die russischen Besatzungstruppen.

Nach Angaben Selenskyjs gibt es für die Ukraine keine Wahl. Sie müsse jedes Angebot akzeptieren, um siegen und überleben zu können. Wenn er entscheiden müsse, ob er das Paket jetzt auf Kredit oder in einem Jahr gratis bekomme, würde er es sofort auf Kredit nehmen, sagte der ukrainische Staatschef.

Selenskyj sieht keine Gefahr für russische Eroberung Charkiws

Angesichts der Gerüchte um eine bevorstehende russische Offensive auf die Millionenstadt Charkiw sieht Selenskyj eine Eroberung der Metropole ausgeschlossen. «Charkiw ist heute geschützt», sagte er ebenfalls im ukrainischen Fernsehen. Er räumte ein, dass die Stadt weiter anfällig gegen Luftangriffe sei, doch für die Verteidigung des Gebiets am Boden sei er absolut zuversichtlich. Seinen Angaben nach sind die von der Ukraine gebauten Befestigungsanlagen nicht nur in Charkiw, sondern auch in weiten Teilen des Front- und Grenzgebiets weitgehend fertig.

Dabei behauptete Selenskyj unter Berufung auf Geheimdienstinformationen, dass Russland zum 1. Juni eine weitere Mobilmachung von 300.000 Mann plane, um seine im Herbst begonnene Offensive fortsetzen zu können. Offiziell hat Moskau bislang Pläne für eine weitere Mobilisierungswelle dementiert.

Allerdings hatte Russlands Präsident Wladimir Putin, als er den Angriffskrieg gegen das Nachbarland befahl, seinen Landsleuten auch zugesichert, dass nur Freiwillige und Berufssoldaten in den – in Moskau «militärische Spezialoperation» genannten – Krieg geschickt würden. Nach einer Reihe von Niederlagen verkündete er im Herbst 2022 dann eine Teilmobilmachung von 300.000 Reservisten, die in die Ukraine an die Front geschickt wurden.

Tote und verletzte Zivilisten auf beiden Seiten in Donezk

Im ukrainisch kontrollierten Teil des Gebiets Donezk sind durch russischen Artilleriebeschuss offiziellen Angaben nach mindestens fünf Zivilisten getötet worden. Unter den Opfern im Landkreis Pokrowsk sei auch eine Minderjährige, teilte die ukrainische Staatsanwaltschaft des Gebiets mit. Zudem seien zwei Menschen verletzt worden. Getroffen worden seien Wohnhäuser in mehreren Ortschaften. Der Landkreis Pokrowsk liegt nur wenige Kilometer von der Front entfernt westlich von Donezk. Auf der anderen Seite meldeten die Behörden der von russischen Truppen besetzten Gebietshauptstadt Donezk elf Verletzte durch ukrainischen Beschuss. 

Unter den Verletzten seien zwei Kinder, schrieb der Chef der von Russland annektierten Region Donezk, Denis Puschilin, auf seinem Telegram-Kanal. Neun Wohnhäuser seien in verschiedenen Stadtteilen beschädigt worden. Neben der Stadt Donezk sind nach Angaben Puschilins auch die ebenfalls vom russischen Militär kontrollierten Städte Makijiwka und Horliwka angegriffen worden. Es habe 29 Mal Beschuss unter anderem durch Artillerie und Drohnen gegeben. Von ukrainischer Seite gab es dazu zunächst keine Angaben.

Tote und Verletzte nach einem Angriff auf Charkiw

Russische Drohnen- und Raketenangriffe hatten in der Nacht offiziellen Angaben zufolge vor allem in der nordostukrainischen Millionenstadt Charkiw zivile Opfer gefordert. «Insgesamt wurden elf Menschen verletzt, sechs Personen wurden getötet», teilte der Militärgouverneur Oleh Synjehubow auf seinem Telegram-Kanal mit.

Durch den Beschuss mit umfunktionierten Flugabwehrraketen vom Typ S-300 seien neun Wohnhäuser, Wohnheime, ein Verwaltungsgebäude, ein Kindergarten, ein Café, eine Autowaschanlage und ein Tankstellengeschäft sowie mehrere Fahrzeuge beschädigt worden.

Angriffe auf russische Luftwaffenstützpunkte

Die Ukraine hat in den vergangenen Wochen die Angriffe im russischen Hinterland mit Kampfdrohnen aus eigener Entwicklung ausgeweitet. Dabei wurden die Fluggeräte meist in russische Ölraffinerien gelenkt, zuletzt auch in eine Drohnenfabrik etwa 1200 Kilometer weit von der Ukraine entfernt. Gleichzeitige Angriffe auf mehrere bedeutende russische Luftwaffenstützpunkte wie in der Nacht auf Freitag gab es bislang aber nicht.

In Morosowsk hat die russische Luftwaffe Bomber der Typen Suchoi Su-24 und Su-27 stationiert. Sie werden zum Abwurf der gefürchteten Gleitbomben auf Städte hinter der ukrainischen Front eingesetzt. Auf dem Stützpunkt seien sechs Flugzeuge zerstört und acht beschädigt worden, hieß es aus Sicherheitskreisen in Kiew. Der russische Militärblogger Fighterbomber verneinte dies. Die russische Seite sei gewarnt gewesen und habe die Jets rechtzeitig abgezogen. Unabhängig überprüfbar waren die Angaben beider Seiten nicht.

Auf dem Stützpunkt Jeisk im südrussischen Gebiet Krasnodar wurden den Kiewer Informationen nach zwei Erdkampfflugzeuge des Typs Su-25 zerstört. Ein weiterer Angriff habe dem über 600 Kilometer von ukrainischem Gebiet entfernten Militärflughafen Engels bei Saratow an der Wolga gegolten. Dabei seien drei strategische Bomber des Typs Tu-95 beschädigt worden. Mit solchen Langstreckenbombern schießt Russland oft Marschflugkörper auf die Ukraine ab. Zu den möglichen Folgen einer weiteren Attacke auf einen Militärflugplatz im Gebiet Kursk wurde vorerst nichts bekannt.

Zweifacher Raketenangriff auf Saporischschja

Durch russische Raketentreffer auf die südostukrainische Großstadt Saporischschja wurden nach Behördenangaben mindestens vier Menschen getötet. 13 Menschen seien in Krankenhäuser gebracht worden, darunter vier Schwerverletzte. Das teilte der Gouverneur des Gebiets, Iwan Fedorow, im ukrainischen Nachrichtenfernsehen mit. Der Gebietsverwaltung zufolge wurden mehr als 20 Menschen verletzt. Insgesamt seien fünf Raketen auf Ziele in der Stadt abgefeuert worden.

Zu den Verletzten zählten auch zwei Journalistinnen der staatlichen Nachrichtenagentur Ukrinform und des TV-Senders 1+1. Sie hatten vor Ort über die Folgen der ersten Raketentreffer berichtet, als die zweite Angriffswelle folgte. Bereits in der vergangenen Nacht war Saporischschja von russischen Kampfdrohnen angegriffen worden.

Stromsperren wegen beschädigter Kraftwerke

Wegen der russischen Treffer auf ukrainische Strom- und Wärmekraftwerke in den vergangenen Wochen musste der Versorger Ukrenerho in fünf Regionen für gut drei Stunden den Strom abschalten. Betroffen waren einer Mitteilung nach die Gebiete Dnipropetrowsk, Saporischschja, Kirowograd, Poltawa und Sumy. Die Bewohner der ostukrainischen Großstadt Charkiw leiden besonders unter Strommangel, und das schon seit Wochen. Dort sind die Einschränkungen noch strenger.

Ukraine befestigt ihre Grenze im Norden

Zwei Jahre nach der Rückeroberung des Gebiets Tschernihiw im Norden der Ukraine hat Präsident Wolodymyr Selenskyj die Region besucht. «Dank des Widerstands des Volkes ist es uns gelungen, diesem Krieg eine Wende zu geben, die Invasoren zu stoppen und sie aus unserer Heimat zu vertreiben», sagte der Staatschef in der Gebietshauptstadt Tschernihiw. Doch die Region an der Grenze zu Russland und Belarus werde weiterhin mit Artillerie beschossen. Selenskyj besuchte nach Angaben seines Präsidialamtes auch neu angelegte militärische Befestigungsanlagen mit Schützengräben, Minengürteln und Panzersperren. Die ukrainische Armee will damit einen möglichen zweiten Vorstoß russischer Truppen stoppen.

Zu Beginn des Angriffskrieges im Februar 2022 war die russische Armee auch durch diese Region in Richtung Kiew vorgerückt. Die Gebietshauptstadt Tschernihiw wurde nicht besetzt, aber wochenlang belagert. Als die russischen Truppen sich im April 2022 zurückzogen, kamen Stadt und Umland wieder unter ukrainische Kontrolle.

Quelle: dpa