Jüngste russische Angriffe auf Charkiw haben schwere Zerstörungen angerichtet und unter anderem die Stromversorgung zum Erliegen gebracht., © George Ivanchenko/AP/dpa

Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage

Die Ukraine erwartet eine russische Offensive gegen die Großstadt Charkiw im Osten des Landes und unternimmt nach den Worten von Präsident Wolodymyr Selenskyj «maximale Anstrengungen» für den Schutz und die Unterstützung der Millionenstadt. Dies gelte sowohl für den zivilen als auch den militärischen Bereich, unterstrich Selenskyj in seiner abendlichen Videoansprache.

«Wir arbeiten mit unseren Partnern an der Stärkung des Luftverteidigungssystems, um den russischen Plänen für Charkiw zu begegnen.» Nach Dafürhalten der ukrainischen Aufklärung dürfte die nächste russische Großoffensive gegen Charkiw gerichtet sein.

Jüngste russische Angriffe auf die Stadt haben dort schwere Zerstörungen angerichtet und unter anderem die Stromversorgung zum Erliegen gebracht. Die ukrainische Regierung habe nun erst Vorschläge erhalten, den Stromausfall in Charkiw und die schweren Schäden am gesamten Energienetz der Ukraine zu beheben.

«Ich bin allen unseren Stromtechnikern und Reparaturteams dankbar», sagte Selenskyj. «Jeder, der das System, die Netze und die normale Versorgung der Menschen wiederherstellt, ist ein wirklich guter Arbeiter.» Russische Präzisionsangriffe mit Marschflugkörpern und Raketen haben in den vergangenen Wochen das ukrainische Energienetzwerk schwer getroffen.

Selenskyj besucht von Russland angegriffene Region Charkiw

Nach den verheerenden russischen Angriffen auf die ostukrainische Region Charkiw hat Präsident Wolodymyr Selenskyj sich an Ort und Stelle über die Situation informiert. «Es werden gerade alle Voraussetzungen für eine Verringerung des Stromdefizits geschaffen», sagte Selenskyj in einer Videobotschaft. Es solle weniger Stromabschaltungen geben. Es werde an einer Behebung der Schäden an den Netzen gearbeitet. Der Präsident warf Russland vor, über die Raketenangriffe und Bombardierungen von Charkiw und Umgebung die Menschen aus der Millionenstadt und der Region vertreiben zu wollen.

«Alles was (der russische Präsident Wladimir) Putin anfasst, verwandelt sich in Ruinen», sagte Selenskyj. Kiew werde jedoch alles tun, um die Stadt besser vor russischen Angriffen zu schützen. «Wir haben eine Lösung, um die Flugabwehr hier zu verstärken.» Selenskyj appellierte zugleich an die internationalen Verbündeten, mehr für eine Stärkung der ukrainischen Flugabwehr zu tun – nicht nur in Charkiw. 

Ebenso inspizierte der Staatschef den Fortschritt beim Bau von Verteidigungslinien entlang der russischen Grenze. Zuletzt hatten sich Befürchtungen über einen neuen russischen Vorstoß in Richtung der nach Kiew zweitgrößten ukrainischen Stadt gehäuft.

«Hauptsache ist jetzt eine effiziente Logistik»

Unter dem Vorsitz Selenskyjs hatte die Stawka, das Oberkommando der ukrainischen Streitkräfte, bereits umfassende Maßnahmen zum Schutz von Charkiw erörtert. «Das Hauptthema war Charkiw, die Verteidigung der Stadt gegen russische Angriffe und die Möglichkeit, unsere Luftabwehr und elektronische Kriegsführung in der Region Charkiw zu verstärken», schrieb Selenskyj auf Telegram. «Wir halten unsere Positionen, die Hauptsache ist jetzt eine effiziente Logistik.»

Der Militärexperte Petro Tschernik zweifelte im ukrainischen Fernsehen die Fähigkeit der Streitkräfte Russlands zur Eroberung der Millionenstadt an. «Diese Stadt wird schon seit zwei Jahren zur Festung ausgebaut», sagte er. Die vergleichsweise kleinere Stadt Bachmut mit ursprünglich 70.000 Einwohnern habe sich den russischen Angriffen zehn Monate lang widersetzt.

Neben den militärischen seien von der Stawka auch diplomatische Bemühungen erörtert worden, beispielsweise zur Beschaffung neuer Luftabwehrsysteme. Selenskyj hat in den vergangenen Wochen von den westlichen Partnern wiederholt weitere Flugabwehrwaffen für die Ukraine gefordert. In einem Fernsehinterview sagte er, sein Land brauche zumindest 25 US-Luftabwehrsysteme vom Typ Patriot, um die ukrainischen Städte ausreichend zu schützen.

Baerbock: International nach mehr Luftverteidigung suchen

Außenministerin Annalena Baerbock hat angesichts der drohenden russischen Großoffensive auf die Großstadt Charkiw im Osten der Ukraine verstärkte internationale Anstrengungen zur Lieferung von mehr Luftverteidigungssystemen verlangt. «Leider sind die Bestände, gerade auch unsere eigenen Patriot-Systeme, mittlerweile ziemlich erschöpft», sagte die Grünen-Politikerin bei einem Treffen mit dem moldauischen Außenminister Mihai Popsoi in Berlin. Nötig sei deshalb etwa eine Aufstellung der in Europa und weltweit zur Verfügung stehenden Luftabwehrsysteme vom Typ Patriot, verwies Baerbock auf eine entsprechende Initiative beim jüngsten Nato-Außenministertreffen. 

Zudem werde unter anderem mit der Ukraine sowie europäischen Partnern an einem Fonds gearbeitet, um Luftabwehrsysteme auch aus Drittländern in der ganzen Welt zu kaufen und rasch zu liefern, sagte Baerbock.

Der russische Präsident Wladimir Putin wolle Charkiw «in Grund und Boden bomben», warnte Baerbock. «Er will vernichten, er will ganz gezielt zerstören.» Im Großraum Charkiw lebten fast eine Million Menschen. «Wenn Russland dort eine Großoffensive startet, brächte dies unermessliches Leid.» Genau deswegen sei es so wichtig, dass alles dafür getan werde, weitere Luftverteidigungssysteme in die Ukraine zu bringen. 

Tote und Verletzte bei russischen Angriffen in der Ukraine

Bei russischen Raketen- und Bombenangriffen in der Ukraine sind mehrere Menschen getötet und verletzt worden. In Poltawa im Zentrum des Landes forderte ein Raketenangriff in der Nacht zum Dienstag Behördenangaben zufolge mindestens ein Todesopfer und zwölf Verletzte, ein zweistöckiges Wohnhaus wurde dabei beschädigt. Im nordukrainischen Gebiet Sumy wurde am Montag ein Mensch bei russischen Luftangriffen getötet und mindestens sechs verletzt. Zudem wurde eine Person im Gebiet Donezk getötet, fünf weitere wurden verwundet. Weitere mindestens vier Verletzte gab es in den Gebieten Charkiw und Cherson. Bei den russischen Angriffen wurden Dutzende Wohnhäuser beschädigt oder zerstört. 

Die Zahl der Opfer nach russischen Raketenangriffen vom Montag im südostukrainischen Gebiet Saporischschja stieg auf vier Tote und acht Verletzte, teilte Gouverneur Iwan Fedorow mit. Insgesamt seien 13 Ortschaften im südostukrainischen Gebiet angegriffen worden. 

Neuer Drohnenangriff bei AKW Saporischschja gemeldet

Im Bereich des besetzten ukrainischen Atomkraftwerks Saporischschja ist erneut ein Drohnenangriff gemeldet worden. Nach Angaben des russischen Managements der Anlage wurde ein Ausbildungszentrum neben dem Kraftwerk angegriffen. Die berichtete Explosion decke sich mit Beobachtungen von Experten der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), die vor Ort stationiert sind, teilte IAEA-Chef Grossi auf X (vormals Twitter) mit. «Diesmal keine unmittelbare Bedrohung der Atomsicherheit, aber dieser jüngste Vorfall zeigt einmal mehr, wie extrem ernst die Lage ist», sagte Grossi.

Am Sonntag war das AKW an drei Stellen von Drohnen angegriffen worden. Laut einem Bericht der IAEA kam es zu keinen schweren Schäden. Dennoch wertete die in Wien ansässige Behörde den Angriff als «schweren Vorfall», der die Strahlenschutzhülle eines Reaktors in Gefahr gebracht habe. Die IAEA äußerte sich nicht darüber, von welcher Seite das AKW jeweils attackiert wurde. Sie berichtete jedoch, dass am Sonntag russische Truppen die Drohnen bekämpft hätten.

Russland, dessen Truppen beim Angriff auf die Ukraine vor mehr als zwei Jahren auch das Kernkraftwerk erobert haben und es seither besetzt halten, inszeniert sich als Sicherheitsgarant der Anlage. Der einflussreiche erste Vizechef der Präsidialverwaltung, Sergej Kirijenko, hat offiziellen Angaben zufolge im Kraftwerk eine Sitzung zur aktuellen Lage und Fragen der Sicherheit der Anlage abgehalten. Außenminister Sergej Lawrow erklärte derweil bei seinem Besuch in China, dass Russland eine Eilsitzung der IAEA und des UN-Sicherheitsrates fordern werde, um eine internationale Stellungnahme zu den «Handlungen des ukrainischen Regimes» zu erzwingen.

Quelle: dpa