Die Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger stellt in Düsseldorf den 4. Jahresbericht vor., © David Young/dpa

Dunkelfeld aufhellen: Antisemitismus an Schulen nimmt zu

Antisemitische Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze sollen an allen Schulen in Nordrhein-Westfalen besser dokumentiert werden. Das ist eine der Maßnahmen, mit denen die Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, das Dunkelfeld im Bereich Antisemitismus erhellen will. Die frühere FDP-Bundesjustizministerin legte am Donnerstag ihren Antisemitismusbericht 2022 vor.

Ihr Fazit: Entwarnung könne sie trotz sinkender Zahlen antisemitischer Straftaten überhaupt nicht geben. Das Ausmaß an Hass und Gewalt der Straftaten scheine eher zuzunehmen, sagte sie. Das zeigten etwa die Schüsse auf das ehemalige Rabbinerhaus der Alten Synagoge Essen im November. «Für Jüdinnen und Juden in Deutschland ist die Konfrontation mit Antisemitismus Teil ihres Alltags», sagte Leutheusser-Schnarrenberger.

Kriminalität: Der kürzlich vorgelegte NRW-Verfassungsschutzbericht 2022 verzeichnete bei den antisemitischen Straftaten einen deutlichen Rückgang von fast 440 auf rund 330 Taten. Nach dem Zehn-Jahres-Hoch von 2021 war dies aber immer noch der vierthöchste Wert der vergangenen zehn Jahre. Mit 287 Straftaten wird der weit überwiegende Teil dem Rechtsextremismus zugeordnet. Insgesamt gab es in NRW vergangenes Jahr 21 Gewalttaten wie Übergriffe auf Menschen oder Sachbeschädigungen. Am Donnerstag wurde bekannt, dass die Bundesanwaltschaft nach einem Brandanschlag an der Bochumer Synagoge einen Deutsch-Iraner angeklagt hat. In ganz Deutschland wurden 2022 rund 2640 antisemitische Straftaten erfasst.

Schulen: Für Schulen sollen einheitliche Meldeformulare für antisemitische Vorfälle entwickelt werden. Dass es antisemitische Äußerungen und Beschimpfungen an Schulen gebe, sei ein «unstreitiger Sachverhalt», sagte die Landesbeauftragte. Aktuelle Studien kämen zu dem Schluss, dass Antisemitismus an Schulen in den vergangenen Jahren «deutlich zugenommen» habe.

Die Diskrepanz zwischen den angezeigten antisemitischen Vorfällen bei den Schulbehörden und den Berichten von Betroffenen lasse auf ein «entsprechendes Dunkelfeld» schließen, heißt es im Antisemitismusbericht 2022 für NRW. Das Meldeformular solle «schnellstmöglich umgesetzt und entsprechend an allen Schulen bekannt gemacht und beworben werden».

Lehramtsausbildung: Das Thema Antisemitismus sollte nach Ansicht Leutheusser-Schnarrenbergers im Lehramtsstudium verpflichtend verankert werden. Auch im Referendariat könnten entsprechende Ausbildungsangebote festgelegt werden.

Studium: Leutheusser-Schnarrenberger regte an, bei Uni-Prüfungen besonders im Bereich Medizin religiöse jüdische Feiertage zu berücksichtigen. Immer wieder gerieten praktizierende jüdische Studierende in Konflikte, wenn sie an Feiertagen Prüfungen ablegen müssten. Dasselbe gelte für Muslime und deren Feiertage. Die Ruhr-Universität-Bochum habe sich bereits verpflichtet, Prüfungstermine so festzulegen, dass sie nicht mit religiösem Arbeitsverbot oder hohen Feiertagen kollidieren.

Kunst/Kultur: Massive Kritik übte Leutheusser-Schnarrenberger am Umgang der Verantwortlichen der Kunstgroßausstellung documenta fifteen 2022 in Kassel. Es habe zu oft an frühzeitigen klaren Distanzierungen von antisemitisch geprägten Vorfällen und an Haltung gefehlt. Bis heute wirke das in die jüdischen Gemeinden und verunsichere sie. Leutheusser-Schnarrenberger forderte eine größere Sensibilität des Kunst- und Kulturbereichs für antisemitische Tendenzen. Das gelte auch für Konzerte des Pink-Floyd-Mitbegründers Roger Waters in Köln. Verbote von Kulturveranstaltungen sieht die Landesbeauftragte allerdings skeptisch und juristisch selten durchsetzbar.

Gesellschaft: Mit einer Dunkelfeld-Studie will die Landesregierung die Verbreitung antisemitischer Vorurteile und Einstellungen in der Gesellschaft aufarbeiten. Im Sommer soll mit Befragungen begonnen werden. Anfang 2024 erhofft sich Leutheusser-Schnarrenberger daraus zusätzliche Erkenntnisse aus verschiedenen Bevölkerungsbereichen in NRW. Vergleichbare Studien in anderen Bundesländern gibt es bislang nicht.

Im April 2022 nahm auch die neue Meldestelle Antisemitismus ihre Arbeit auf. Im Juni ist ihr erster Bericht geplant. Die Stelle sammelt Meldungen über strafrechtlich nicht relevante Vorfälle. «Das ist ganz entscheidend, weil das einen Blick gibt in das, was in unserer Gesellschaft los ist», sagte Leutheusser-Schnarrenberger.

Justiz: Bei den Generalstaatsanwaltschaften und Staatsanwaltschaften in NRW wurden 22 Antisemitismusbeauftragte eingesetzt. Sie sollen noch stärker für antisemitisch motivierte Taten sensibilisieren. Schon bei Anfangsermittlungen müsse genau hingesehen werden. «Denn auch der Antisemitismus ändert sein Erscheinungsbild.» Auch Urteile mit Bezug zu Antisemitismus oder Volksverhetzung sollten einheitlicher werden und gäben der jüdischen Gemeinschaft mehr Sicherheit.

Ukraine-Krieg: Der seit Februar 2022 geführte völkerrechtswidrige russische Angriffskrieg gegen die Ukraine habe zusätzliche neue antisemitische Verschwörungsnarrative hervorgebracht, heißt es im Vorwort des Berichts. Kern der russischen Kriegspropaganda sei eine angeblich notwendige «Entnazifizierung» der Ukraine.